Türkei und Iran haben sich verbündet, um den Nahen Osten zu
beherrschen. Doch die Friedensaktivisten durchschauen diese Strategie nicht.
VON LEON DE WINTER
Es ist ein faszinierendes Phänomen: Warum verbünden
sich Menschen und Organisationen, die sich progressiv nennen, mit reaktionären
Muslimen?
Progressive und Reaktionäre haben eine Gruppierung
gegründet, die sich „Free Gaza“ nennt, um die Bewohner Gazas mit „humanitären
Gütern“ zu versorgen – nun ja, Gaza ist bereits frei. 2005 ist die israelische
Herrschaft über Gaza zu Ende gegangen. Und Bedarf für humanitäre Hilfe gibt es
nicht. Jeden Tag transportieren Dutzende Lastwagen vier- bis fünfmal mehr
humanitäre Güter nach Gaza als die „Flotte“.
Die Bevölkerung Gazas jedoch hat sich in demokratischen
Wahlen für eine Partei entschieden, deren Existenz sich auf ihren Judenhass
gründet, und Israel will verhindern, dass die Hamas an schwere Waffen kommt und
Bunker baut, wie die Hisbollah im Libanon, weshalb es eine israelische Blockade
für „strategische Güter“ gibt. So einfach ist das. Die Tatsache, dass Gaza
komplett „judenrein“ ist, ist der Hamas nicht genug.
Sie will, dass auch das Territorium Israels „judenrein“
ist. Niemand in Gaza muss verhungern, anders als in Darfur oder dem Kongo. Gaza
ist frei, nutzt diese Freiheit jedoch, um israelische Dörfer mit Terror zu
überziehen.
Legitimer
Kampf
Anders als Gaza ist Tschetschenien nicht frei, aber die
Progressiven hassen Israel mehr als Russland. Die Russen haben den legitimen
Kampf der Tschetschenen grausamer niedergeschlagen als die Israelis die
Palästinenser je behandelt haben. Und die Kurden? Es gibt keinen kurdischen
Staat, obwohl die Kurden einen gründen wollen. Türken und Iraker haben den
Kurden weit Schlimmeres zugefügt als Israel jemals den Palästinensern – dennoch
findet sich kein Anzeichen, dass die Progressiven die Russen oder die Türken
oder die irakischen Araber hassten.
Keine der westlich-progressiven Gruppen, die „Free Gaza“
unterstützen, würden je in einem arabischen Land, in der Türkei, Gaza oder der
Westbank toleriert – in Israel hingegen sind sie es. Nichtsdestotrotz haben die
Progressiven die palästinensische Sache über jede andere Sache gestellt, obwohl
sich das Leiden der Palästinenser im Vergleich zu anderem Leid in Asien oder
Afrika sehr in Grenzen hält.
Spielen solche Fakten eine Rolle? Nein. Es geht allein um
die eigene Ideologie. Hier kommen noch ein paar weitere Tatsachen. Schauen wir
uns die Rate der Kindersterblichkeit in Gaza an. Es handelt sich dabei um eine
Schlüsselzahl, da sie viel über Hygiene, Ernährung und medizinische Versorgung
aussagt. In Gaza liegt die Kindersterblichkeit bei 17,71 von 1000. Im Vergleich
zu westlichen Ländern ist das hoch. Im Vergleich zu Ägypten ist es niedrig.
Ägyptens Rate liegt bei 26,2. Und wie sieht es mit der Kindersterblichkeit in
der Türkei aus? Nun, die liegt bei 24,84. In der Türkei sterben mehr
Neugeborene als in Gaza!
Noch ein Fakt. Das Bevölkerungswachstum. Würde Israel den
Arabern in Gaza wirklich die Ernährung verweigern, müsste die Bevölkerungszahl
dramatisch abnehmen. Doch das Bevölkerungswachstum in Gaza beträgt 3,29
Prozent. Es ist eines der höchsten der Welt. In Ägypten, dessen
Bevölkerungszahl auch explodiert, beträgt es 1,997 Prozent.
Und die Lebenserwartung? In Gaza beträgt sie 73,68 Jahre.
In Ägypten 72,4 Jahre. Und in der Türkei, dem neuen Schutzherrn Gazas, sind es
72,23 Jahre. Im Durchschnitt leben die Menschen in Gaza ein Jahr und vier
Monate länger als die Menschen in der Türkei, und in Gaza geborene Babys haben
eine größere Chance zu überleben, als Kinder, die in der Türkei zur Welt
kommen.
Sollten die Israelis die Palästinenser töten wollen,
sollten sie ihnen das Leben verkürzen und vergällen wollen, dann machen sie
etwas falsch. Sie lassen sie länger leben, als die Türken leben.
Israel ist
ein freiheitliches Land
Noch einmal: Warum hassen Progressive Israel mehr als sie,
zum Beispiel, den Sudan hassen Einer der Gründe muss sein: Israel ist ein starkes
Argument gegen den kulturellen Relativismus. Israel hat eine freie Presse,
Männer und Frauen haben die gleichen Rechte, es herrscht Versammlungsfreiheit –
Beweise für die Überlegenheit westlicher Kultur. Progressive hassen Israel,
weil das Land in einem Meer muslimischer Rückständigkeit traditionelle
europäische Werte repräsentiert.
Zudem ist Israel der Körper, der jene nicht greifbare
Ethnizität beherbergt, mit der der Westen seit dem Mittelalter ringt: der
Judaismus, diese eigentümliche Kraft, die als arrogant, überholt, tribal,
widerwärtig und zugleich begehrt gilt. Doch es gibt noch mehr Gründe, warum die
Progressiven Israel hassen.
Tatsächlich ist, was an Bord der „Free Gaza“-Schiffe
geschah, nicht böser als die Folgen amerikanischer Drohnenangriffe im Irak oder
in Pakistan – die Zahl unschuldiger ziviler Opfer infolge kollateraler Schäden
ist dort viel höher. Anfang Mai tötete die chinesische Bereitschaftspolizei 140
Muslime. Die Welt wurde darüber nicht einmal informiert. Im Irak wurden, einen
Monat vor der Aktion der Gaza-Flotte, fast 500 Muslime bei Explosionen getötet.
Und was ist mit den Kurden? Hunderttausende Kurden wurden von Arabern und
Türken und Iranern massakriert – ihr Schicksal erregt das westliche Gemüt
nicht.
Das Problem für viele Juden ist, dass sich die Progressiven
des 21. Jahrhunderts und ihre Aversion gegen die jüdische Ethnizität von den
Antisemiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr unterscheiden
lassen. Deren Slogan war: Schickt die Juden nach Palästina. Jetzt sagen die
Progressiven: Schmeißt die Juden raus aus Palästina.
Die Progressiven sind nützliche Idioten, gefangen in einem
komplexen geopolitischen Spiel. Ein Spiel, dessen Herren Türken und Iraner
sind.
Die Mullahs
sind von den Juden besessen
Die islamistischen Perser, die Mullahs, haben sich gleich
mit Beginn der Khomeini-Revolution bemüht, Öl ins Feuer des islamischen
Judenhasses zu gießen. Israels Existenz stellt für den Iran keine Bedrohung dar
– verglichen mit dem Iran ist es ein kleines Land mit einer winzigen
Bevölkerung. Doch die Mullahs sind von den Juden besessen.
Die zweite Stufe ist das Auftauchen terroristischer
Organisationen wie al Qaida. Ihr Ziel war, die nepotistischen Tyranneien der
arabischen Welt abzusetzen und durch islamistische Theokratien zu ersetzen. Die
Islamisten begannen ihren Kampf gegen die korrupten, ungläubigen Kollaborateure
des Westens, die Ursache der anhaltenden Unterlegenheit der islamischen
„ummah“.
Diese Islamisten sind die direkten Nachfolger breiterer
sunnitisch-islamischer Bewegungen wie der Muslimbruderschaft, die die
herrschenden Eliten der arabischen Welt gewaltsam unterdrückt hatten. Diese
Gruppen können entsetzliches Leid verursachen, sind aber nicht in der Lage
gewesen, einen bedeutenden arabischen Nationalstaat unter ihre Kontrolle zu
bringen und können gewiss nicht den Westen in die Knie zwingen.
Die dritte und vielleicht überraschendste Entwicklung nimmt
derzeit in der Türkei ihren Lauf. Eine schleichende islamistische Revolution,
sorgfältig vorbereitet von Islamisten in Designeranzügen, unternimmt den
Versuch, die Errungenschaften der kemalistischen Revolution von 1922 rückgängig
zu machen und sie durch eine Orthodoxie zu ersetzen. Die Islamisten der AKP
versuchen, die alte Herrlichkeit des Ottomanenreiches wiederherzustellen.
Die neue
Orthodoxie
Jahrhunderte lang stand das Ottomanische Imperium für die
Oberhoheit des Islam über die Welt. An seiner Spitze stand ein Kalif, eine Art
Papst mit unbeschränkter Macht. Abu Bakr, der Schwiegervater des Propheten
Mohammed, war der erste Kalif. Der letzte, Abdülmecit II., wurde 1924
abgesetzt, nachdem es im Anschluss an die demütigende Niederlage im Ersten
Weltkrieg zur säkularen Revolution der Jungtürken gekommen war. Ob die
türkischen Islamisten heimlich von der Wiederherstellung des Kalifats träumen,
ist unklar.
Weder die Türkei noch der Iran, beides nicht-arabische
Länder mit einer Jahrhunderte alten Abneigung gegen Araber, haben Grund, sich
von Israel bedroht zu fühlen oder eine besondere Sympathie für die
Palästinenser zu hegen. Israel spielt für die langfristigen Pläne weder der
Türkei noch des Iran eine Rolle. In Wahrheit ist der Iran am Schicksal
arabischer und sunnitischer Palästinenser nicht interessiert.
Er hat allein Augen für die reichen Ölvorkommen im
nördlichen Teil der arabischen Halbinsel, wo eine mehrheitlich schiitische
Bevölkerung von sunnitischen Saudis regiert wird. Das Nukleararsenal, an dem
die Mullahs arbeiten, soll als Schirm dienen, diese Region zu kontrollieren,
und sich in erst in zweiter gegen Israel richten, die Heimat der jüdischen
Erzfeinde des Propheten, die von heiligem islamischen Boden vertrieben werden
müssen.
Die Juden
waren die Erzfeinde Mohammeds
Israels Untergang ist eine religiöse Pflicht; die Juden
waren die Erzfeinde des Propheten, und es wäre großartig, sie endgültig zu
vertreiben. Friedensaktivisten sangen auf ihrem türkischen Schiff: „Khaybar,
Khaybar, oh Juden, Mohammeds Armee wird wiederkehren.“ Islamischen Texten
zufolge, ließ Mohammed in Khaybar jeden Juden töten, mit der Ausnahme einiger
Frauen, unter denen eine wunderschön war und die er sich als persönliche
Sexsklavin nahm.
Und wovon träumen die türkischen Islamisten? Ihr Ehrgeiz
ist kaum weniger beeindruckend als der des Iran. Montag, der 31. Mai, wird als
dramatischer Wendepunkt in die Geschichte eingehen: Die Türkei hat Ägypten die
Führung der sunnitischen Welt entrissen. Über Nacht.
Die Flotte, beladen mit angeblichen humanitärer
Hilfsgütern, angeführt von einer türkisch-islamistischen Organisation mit engen
Verbindungen zur türkischen Regierung – und teils mit nützlichen Idioten aus
dem Westen bemannt, die kaum eine Vorstellung hatten, auf was sie sich da
einließen – war der Eröffnungszug einer meisterlichen Strategie. Eine
Win-Win-Eröffnung. Hätten die Schiffe Gaza erreicht, wäre das ein türkischer
Sieg gewesen.
Im Fall einer gewaltsamen Auseinandersetzung wäre sich die
türkische Nation einig in ihrer Trauer um die Opfer und ihrer Wut auf Israel,
während westliche Medien sich über die unverhältnismäßigen Verbrechen der Juden
aufregen würden. So konnte sich die Türkei von Israel lossagen und sich als
Führer der sunnitischen Welt neu erfinden.
Instanbul
regiert Araber
Die Gaza-Flotte muss in Kairo und anderen arabischen
Hauptstädten hektische Beratungen ausgelöst haben. Die Araber wurden über viele
Jahrhunderte von Istanbul aus regiert, sie wissen, wozu die ottomanischen
Türken fähig sind. Insbesondere die offene Unterstützung der extremistischen
Hamas durch die Türkei ist ein direkter Affront gegen Ägyptens Machthaber, die
die Muslimbruderschaft seit den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts
verfolgt haben. Dass die Türkei das Symbol des palästinensischen Opfers radikal
an sich gerissen hat, markiert einen scharfen Einschnitt in die geopolitische
Landschaft des Nahen Ostens. Mit einem einzigen Zug hat sich das Zentrum der
sunnitischen Welt von Kairo nach Ankara verlagert.
In den Turkmenen und Aseri Zentralasiens haben die Türken
natürliche Verbündete. Dort gibt es reiche Ölvorkommen. Wahrscheinlich haben
die türkischen und iranischen Islamisten sich bereits auf ihre jeweiligen
Einflusssphären geeinigt. Während der Iran den Blick nach Süden richtet und in
den östlichen Irak, interessieren sich die Türken für die dicht besiedelten
sunnitischen Zentren des Mittelmeers und Zentralasien.
Worauf sich der Iran und die Türkei in Sachen Irak und
Afghanistan geeinigt haben, bleibt unklar, doch die Folgen ihrer neuen Allianz
werden bald zu spüren sein. Der neue islamische Mensch wird in der Türkei und
dem Iran entstehen. Er wird die Werkzeuge, die er vom Westen übernommen hat,
gebrauchen, um seine Herrschaft über die Welt auszudehnen. Unterdessen hat ein
unentschiedenes, schwankendes Amerika keine Antwort auf die Herausforderung
durch diese Koalition.
Die türkischen Islamisten legen, von palästinensischen
Aktivisten und nützlichen Idioten aus dem Westen unterstützt, eine
bemerkenswerte Geschicklichkeit an den Tag. Unter den bewundernden Blicken der
türkischen Regierung werden sie Israel weiter provozieren. Ziel ist, eine
Intervention der türkischen Marine zu erzwingen, gefolgt von der Armee. Das ist
der ideale Weg, sämtliche Teile der türkischen Gesellschaft zu vereinen und das
türkische Militär zu entsäkularisieren, die einzige bedeutende Kraft in der
türkischen Gesellschaft, die die Träume der Islamisten platzen lassen könnte.
Gaza hat mit
brutalen Juden nichts zu tun
Um es klar zu machen: Das Gaza-Spektakel hat mit Frieden,
hungrigen Palästinensern und brutalen Juden nichts zu tun. Es handelt sich um
Phase eins von etwas völlig anderem. Und ja, wir haben ein Problem: Denn
westliche Länder, von Politik- und Medieneliten geführt, die in
friedensorientierten Wohlfahrtstaaten aufgewachsen sind, sind gegen Kräfte wie
diese machtlos – sie sind ja kaum in der Lage, die Gefahr zu erkennen.
Westliche Politiker und Diplomaten sind nicht dafür
ausgebildet, mit den ausgekochten Söhnen Istanbuls und Teherans zu verhandeln,
diesen erfahrenen Verschwörern, Manipulatoren, Lügnern, Intriganten. Die Gefahr
für den Westen besteht nicht in der muslimischen Immigration nach Europa oder
dem Terror von al Qaida; sie besteht in der Koalition zweier islamischer
Regime, die islamofaschistisch sind. Es wird nicht lange dauern, bis sie
Atomwaffen haben.
Noch einmal:
Woher der Hass der Progressiven auf Israel?
Keine andere Gruppe armer oder unterdrückter Muslime ist
für die Progressiven von Interesse. Sie interessieren sich allein für die Opfer
der Juden. Die Ironie ist: Die Palästinenser werden in den arabischen und
islamischen Ländern nicht besonders geschätzt. Sie werden als unzuverlässige
Söldner abqualifiziert, deren schimpfliche Niederlagen der arabischen Nation
Schande machen. Nationalisten, Islamisten und Tyrannen haben sich ihrer auf
zynische Weise bedient, jeder hatte sein eigenes Motiv, die unerträgliche Überlegenheit
der Juden in Israel als Strich durch die eigene Rechnung darzustellen.
Die Blutbäder von Sabra und Shatilah von 1982, in
Wirklichkeit innerarabische Massaker, wurden so auf atemberaubende Weise zu
einem Werkzeug der Öffentlichkeitsarbeit für die Palästinenser und ihre linken
Unterstützer aus Europa. Es war Jassir Arafats Genie, das den palästinensischen
Kampf in neomarxistische und antiimperialistische Rhetorik umdeutete. Er schuf
einen neuen Kontext für sein Volk: den Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus.
Er war ein klassischer korrupter Warlord mit einem
bemerkenswerten Talent für das Spiel mit den Medien und den Politikern des
Westens. Den Progressiven wurden die Palästinenser so zu ihren liebsten,
exemplarischen Opfern eines von Israel verkörperten Imperialismus und
Kolonialismus. Das ist die erste der beiden hauptsächlichen Erklärungen für den
Hass der Progressiven. Der zweite folgt.
Der entstehenden Symbolik der Palästinenser als Opfer eines
westlichen Imperialismus wurde in Europa die beißende Symbolik des Holocaust
hinzugefügt – die Europäer hatten die Schuld für die Vernichtung der Juden
Europas lang genug getragen und begannen, sich nach einer historischer
Entlastung zu sehnen. Die kam in Form einer militärischen Aggression Israels, die
ab einem bestimmten Augenblick per Definition unverhältnismäßig war, auch wenn
die Gewalt mit der sich Araber und Muslime gegenseitig angriffen – und noch
immer angreifen – weit destruktiver und blutiger war.
Arabische
Regime verweigern Völkern Rechte
Doch die Europäer konnten die Chance, die Juden zu
diffamieren, nicht ungenutzt lassen. Die arabischen Regime verweigern ihren
Völkern mindestens ebenso viele Rechte wie die Juden den Palästinensern – und
von den Katastrophen in Darfur oder dem Kongo ist hier nicht einmal die Rede –,
doch solche Nuancen waren nicht so wichtig.
In den Augen progressiver Europäer wurde der
israelisch-palästinensische Konflikt zum unvergleichlichen Konflikt, zum
einzigartigen Phänomen der Schaffung palästinensischer Opfer durch europäische
Opfer, was die Last des ordinären europäischen Massenmords an den Juden zu
mindern schien. Was immer die israelischen Juden taten, es war verführerisch,
im nahöstlichen Dschungel nach jüdischer Schuld zu suchen.
Einem palästinensischen Opfer in jüdischer Hand,
Terroristen eingeschlossen, wurde eine Bedeutung beigemessen, die kein anderes
Opfer auf der Welt hätte erlangen können. Das Unrecht, das den Juden angetan
wurde, wird aufgewogen mit dem Unrecht, das die Juden den Palästinensern antun.
Angesichts der jüngsten massiven Angriffe auf das
Existenzrecht Israels wird deutlich, dass es unter Europäern ein großes
Bedürfnis gibt, die Juden Mörder zu nennen – deshalb sind die Palästinenser als
Opfer der Juden wichtiger als die zahllosen muslimischen Opfer muslimischer
Extremisten, deshalb werden Millionen anderer Muslime, die unter schlechteren
Bedingungen als die Palästinenser leben, in den Medien mit keinem Wort erwähnt,
deshalb werden israelische Militäraktionen am liebsten mit dem Wort „Nazi“ versehen.
Nennt man die Israelis Nazis, werden die eigentlichen Nazis
legitimiert. Es macht den Eindruck, als wollten die Europäer, von den
Progressiven angeführt, dass die Araber den Job zu Ende bringen. Schluss mit
den Juden. Es ist, was es ist – wir erleben Europas Befreiung von der
Hinterlassenschaft des Holocaust.
Was tun mit
den Türken?
Wenn die Islamisten ihren Ehrgeiz befriedigen, wenn es den
Türken und der Grünen Bewegung im Iran misslingt, Freiheit und Moderne zu
verteidigen, werden selbst die blinden Progressiven aus dem Westen dem Tanz
nicht entkommen, wie sehr sie die Islamisten auch unterstützt und ihnen den
symbolische Nutzbarmachung der Palästinenser erleichtert haben mögen.
Montag, der 31. Mai veränderte alles. Die Europäische Union
sieht sich an ihren Grenzen einem grimmigen islamistischen Gegner gegenüber.
Genau wie in den arabischen Hauptstädten haben in denen der EU die
Energiesparlampen in den Außenministerien bis in den Morgen gebrannt – was tun
mit den Türken? Der Zorn der EU auf Israel ist nichts als eine optische
Täuschung. Die politischen Eliten wissen, was geschehen ist: Die Türkei hat
sich mit dem Iran verbündet.
Und Russland und China? Diese beiden alten Nationen, von
zynischen Eliten regiert, gestatten den iranischen und türkischen Islamisten
ihr Spiel gern, schwächt es doch ganz bestimmt den Westen. Die einzige Macht,
die in der Lage ist, Einfluss auf das Ergebnis dieses Spiels der Islamisten zu
nehmen, die Vereinigten Staaten, wird derzeit von einem Mann geführt, der in
progressiven Kreisen aufgewachsen ist, in denen traditionelle Machtpolitik
ebenso verunglimpft wird wie ein angeblich imperialistisches, kolonialistisches
Israel – er ist ein Produkt akademischer Zirkel, die sich allumfassenden
Illusionen über die regulierende Rolle, die internationale Organisationen wir
die Vereinten Nationen spielen sollten, hingeben.
Was wir in Gaza beobachten, ist die vollendete Inszenierung
eines meisterhaften islamistischen Theaterstücks. Und die Empörung der Medien
markiert das nächste Kapitel in der langen Geschichte des europäischen
Judenhasses. Es ist wieder salonfähig, Antisemit zu sein. Das ist nur der
Anfang von Schlimmerem.
Leon de Winter ist Schriftsteller. Er lebt in den
Niederlanden und den USA. Zuletzt erschien sein Roman „Das Recht auf Rückkehr“.
http://www.pi-news.net/2010/06/in-der-tuerkei-sterben-mehr-saeuglinge-als-in-gaza/